Der Krieg in Gaza und der andauernde Konflikt zwischen Israel und der Hamas dominieren die Schlagzeilen weltweit. Während die internationale Gemeinschaft nach Wegen zur Deeskalation und zum Schutz der Zivilbevölkerung sucht, steht Deutschland in einer besonderen Position. Die Bundesrepublik betont immer wieder ihre historische Verantwortung und ihre unbedingte Solidarität mit Israel und dem jüdischen Volk. Doch gilt diese Haltung auch dann, wenn Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen und sogar Völkermord im Raum stehen, und internationale Haftbefehle gegen die israelische Führung erlassen werden? Dieser Blogbeitrag beleuchtet die vielschichtige Beziehung zwischen Deutschland und Israel im Kontext des aktuellen Konflikts und wirft kritische Fragen auf.
Historische Verpflichtung oder unbedingte Loyalität? Deutschlands besondere Beziehung zu Israel
Die Wurzeln der deutschen Solidarität mit Israel reichen tief. Nach den Gräueltaten des Holocausts und der Ermordung von sechs Millionen Juden während der NS-Zeit hat sich die Bundesrepublik eine besondere Verantwortung auferlegt, die Sicherheit Israels zu gewährleisten und das jüdische Leben weltweit zu schützen. Diese sogenannte „Staatsräson“ ist ein wiederkehrendes Motiv in der deutschen Außenpolitik und wird von nahezu allen politischen Parteien getragen.
Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte diese Haltung wiederholt: „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“
Diese Aussage ist in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unumstritten, doch die Interpretation dessen, was „Sicherheit Israels“ in einem bewaffneten Konflikt konkret bedeutet, ist zunehmend Gegenstand intensiver Debatten.
Die historische Verpflichtung führte in der Vergangenheit zu einer engen Zusammenarbeit in vielen Bereichen, von der militärischen Hilfe bis zur kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Deutschland hat Israel nicht nur diplomatisch, sondern auch finanziell und materiell unterstützt.
Der 7. Oktober und die israelische Reaktion: Eine Rechtfertigung für alles?
Der brutale Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem über 1200 Menschen, darunter viele Zivilisten, ermordet und Hunderte entführt wurden, war ein Schock für die Welt und eine traumatische Erfahrung für Israel. Die Gräueltaten der Hamas riefen weltweit Entsetzen hervor und stärkten die internationale Solidarität mit Israel. Deutschland verurteilte den Angriff scharf und stellte sich uneingeschränkt an die Seite Israels.
In der Folge startete Israel eine massive Militäroperation im Gazastreifen mit dem erklärten Ziel, die Hamas zu zerstören und die Geiseln zu befreien. Die Intensität dieser Operation, die zu weitreichenden Zerstörungen und einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen führte, hat jedoch international Besorgnis ausgelöst. Die Zahlen der palästinensischen Opfer, darunter eine hohe Anzahl von Frauen und Kindern, sind alarmierend.
„Die Vereinten Nationen schätzen, dass mehr als 35.000 Palästinenser im Gaza-Streifen getötet wurden, viele davon Zivilisten, und über 79.000 verletzt wurden, seit die israelische Offensive am 7. Oktober begann“, so ein aktueller Bericht der Vereinten Nationen. (Quelle: UNOCHA, Stand Mai 2024 – https://www.unocha.org/publications/report/occupied-palestinian-territory/hostilities-gaza-strip-and-israel-reported-humanitarian-impact-8-may-2024-1500 )
Vorwürfe von Kriegsverbrechen und Völkermord: Die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs
Mit der Eskalation des Konflikts wurden zunehmend Vorwürfe von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen beide Konfliktparteien laut. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag spielt dabei eine zentrale Rolle. Im Mai 2024 beantragte der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, Haftbefehle gegen führende Vertreter der Hamas, darunter Yahya Sinwar und Mohammed Deif, sowie gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant.
Die Vorwürfe gegen die israelische Führung umfassen unter anderem „Aushungern von Zivilisten als Kriegsmethode“, „vorsätzliche Tötung“ und „vorsätzliche Angriffe auf Zivilisten“. Gegen die Hamas werden unter anderem „Ausrottung“, „Geiselnahme“ und „Vergewaltigung“ vorgeworfen. (Quelle: IStGH, Pressemitteilung vom 20. Mai 2024 – https://www.icc-cpi.int/news/statement-icc-prosecutor-karim-aa-khan-kc-applications-arrest-warrants-situation-state)
Die Reaktion Deutschlands auf diese Entwicklungen war gespalten. Während einige die Unabhängigkeit des IStGH betonten und die Bedeutung der internationalen Gerichtsbarkeit hervorhoben, äußerten andere, darunter auch Regierungsvertreter, Bedenken hinsichtlich der Gleichsetzung der Hamas mit der israelischen Führung. Diese Haltung wurde von vielen als problematisch empfunden, da sie die Rolle eines unabhängigen Gerichts infrage stellt und die Gewaltspirale potenziell legitimiert.
Das Völkerrecht und die humanitäre Dimension: Eine Gratwanderung
Das Völkerrecht, insbesondere das humanitäre Völkerrecht, soll in bewaffneten Konflikten den Schutz von Zivilisten und die Einhaltung grundlegender menschlicher Rechte gewährleisten. Es verbietet willkürliche Angriffe auf Zivilisten, die Zerstörung ziviler Infrastruktur und den Einsatz von Hunger als Kriegswaffe. Die Vorwürfe gegen Israel im Gazastreifen werfen ernste Fragen hinsichtlich der Einhaltung dieser Prinzipien auf.
Die Blockade des Gazastreifens, die über Jahre hinweg zu einer prekären humanitären Lage führte, und die massiven Bombardierungen nach dem 7. Oktober haben die Lebensbedingungen der palästinensischen Bevölkerung dramatisch verschlechtert. Hilfsorganisationen berichten von katastrophalen Zuständen, mangelndem Zugang zu Nahrung, Wasser, Medikamenten und medizinischer Versorgung.
„Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist desaströs. Die Bevölkerung ist vom Hungertod bedroht, und die medizinische Versorgung ist nahezu zusammengebrochen“, warnte UN-Generalsekretär António Guterres im April 2024. (Quelle: UN-Generalsekretär, Erklärung vom April 2024 – https://www.un.org/depts/german/gs/a79-1-glossy.pdf)
Die Vorwürfe des Völkermords vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), einem anderen Organ der Vereinten Nationen, der über Staatenstreitigkeiten urteilt, sind ebenfalls von großer Bedeutung. Südafrika hat Israel vor dem IGH wegen des Vorwurfs des Völkermords in Gaza verklagt. Obwohl der IGH bisher noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, hat er Israel angewiesen, Maßnahmen zu ergreifen, um einen Völkermord zu verhindern. Diese Klage und die Anweisung des IGH sind ein deutliches Zeichen für die Ernsthaftigkeit der Vorwürfe und die Notwendigkeit einer umfassenden Prüfung.
Deutschlands Dilemma: Verantwortung und Kritik
Die deutsche Regierung steht vor einem schwierigen Dilemma. Einerseits die historische Verpflichtung gegenüber Israel, andererseits die universellen Werte der Menschenrechte und des Völkerrechts. Die scheinbar bedingungslose Unterstützung Israels, selbst angesichts schwerwiegender Vorwürfe, führt zu wachsender Kritik im In- und Ausland.
Viele Stimmen in der deutschen Zivilgesellschaft und auch einige politische Akteure fordern eine kritischere Haltung der Bundesregierung. Sie argumentieren, dass die Staatsräson nicht als Freibrief für Menschenrechtsverletzungen dienen dürfe und dass Deutschland seine Rolle als Verfechter des Völkerrechts ernst nehmen müsse.
„Es ist die Pflicht Deutschlands, die Einhaltung des Völkerrechts einzufordern, auch von seinen engsten Verbündeten. Das bedeutet, nicht wegzuschauen, wenn Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden“, kommentierte eine führende Menschenrechtsorganisation in Deutschland. (Quelle: https://www.germanwatch.org/de/91048)
Die Debatte ist komplex und emotional aufgeladen. Einerseits die Notwendigkeit, Antisemitismus zu bekämpfen und die Sicherheit Israels zu gewährleisten, andererseits die Sorge um die palästinensische Zivilbevölkerung und die Einhaltung des Völkerrechts.
Die Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen: Ein kritischer Blick nach vorn
Der aktuelle Konflikt und die damit verbundenen Vorwürfe stellen die deutsch-israelischen Beziehungen auf eine harte Probe. Eine fortgesetzte bedingungslose Unterstützung Israels könnte das Ansehen Deutschlands als Verfechter der Menschenrechte und des Völkerrechts ernsthaft beschädigen. Es drängt sich die Frage auf, wie Deutschland seine historische Verantwortung wahren und gleichzeitig seiner Verpflichtung gegenüber den universellen Werten gerecht werden kann.
Ein ausgewogener Ansatz würde bedeuten, die Sicherheit Israels weiterhin zu unterstützen, gleichzeitig aber auch die Einhaltung des Völkerrechts einzufordern und humanitäre Hilfe für die Bevölkerung in Gaza zu leisten. Dies würde auch bedeuten, die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs uneingeschränkt zu respektieren und deren Entscheidungen ernst zu nehmen.
Es ist entscheidend, dass Deutschland eine transparente und faktenbasierte Diskussion über die Geschehnisse in Gaza führt, ohne dabei die historische Verantwortung zu vergessen, aber auch ohne Kritik an Handlungen, die dem Völkerrecht widersprechen, zu unterlassen. Nur so kann Deutschland seine Glaubwürdigkeit als globaler Akteur bewahren und einen konstruktiven Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts leisten.
Ein Blick auf die Vergangenheit: Israels Umgang mit der Bevölkerung im Gazastreifen vor dem 7. Oktober
Es ist wichtig, die Geschehnisse nach dem 7. Oktober nicht isoliert zu betrachten, sondern sie in einen größeren historischen Kontext zu stellen. Die Lebensbedingungen im Gazastreifen waren bereits vor dem jüngsten Konflikt extrem prekär. Seit 2007, nach der Machtübernahme der Hamas, hat Israel eine Blockade des Gebiets aufrechterhalten, die weitreichende Auswirkungen auf die Wirtschaft und das tägliche Leben der Menschen hatte.
Diese Blockade, von vielen als „offenes Gefängnis“ bezeichnet, hat die Bewegungsfreiheit der Bewohner stark eingeschränkt, den Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen erschwert und zu einer hohen Arbeitslosigkeit und Armut geführt. Kritiker werfen Israel vor, die Bevölkerung in Gaza kollektiv bestraft zu haben, was gegen das Völkerrecht verstoßen würde.
„Die Blockade des Gazastreifens seit 2007 hat die humanitäre Krise in dem Gebiet dramatisch verschärft und das Leben von Millionen von Menschen massiv beeinträchtigt“, so ein Bericht der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) aus dem Jahr 2020. (Quelle: UNCTAD-Bericht, https://unctad.org/publication/economic-costs-israeli-occupation-palestinian-people)
Die Geschichte der israelischen Besatzungspolitik und der wiederkehrenden militärischen Operationen im Gazastreifen hat das Misstrauen und die Verzweiflung auf palästinensischer Seite verstärkt. Dies rechtfertigt keineswegs die Gräueltaten der Hamas, macht aber die komplexen Ursachen des Konflikts deutlich und unterstreicht die Notwendigkeit einer politischen Lösung, die die Rechte und Bedürfnisse beider Seiten berücksichtigt.
Fazit: Verantwortung übernehmen, Völkerrecht einfordern
Die bedingungslose Unterstützung von Israel durch Deutschland ist ein Ausdruck historischer Verantwortung. Doch diese Verantwortung darf nicht dazu führen, die Augen vor potenziellen Menschenrechtsverletzungen oder Verstößen gegen das Völkerrecht zu verschließen. Die Vorwürfe gegen die israelische Führung vor dem Internationalen Strafgerichtshof und die Klage vor dem Internationalen Gerichtshof sind ernst zu nehmen.
Deutschland muss seine Stimme erheben, um eine friedliche und gerechte Lösung des Konflikts zu fördern, die auf der Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte für alle basiert. Dies bedeutet, humanitäre Hilfe für Gaza zu leisten, unabhängige Untersuchungen von Vorwürfen zu unterstützen und sich für eine politische Lösung einzusetzen, die den Kreislauf der Gewalt durchbricht und eine Zukunft in Frieden und Sicherheit für Israelis und Palästinenser ermöglicht. Die Rolle Deutschlands als Verfechter der internationalen Gerichtsbarkeit und des Völkerrechts ist in diesen schwierigen Zeiten von größter Bedeutung.
Doch bei all dem Schmerz und der Empörung über die Taten der Hamas darf eines niemals außer Acht gelassen werden: Die Gräueltaten des einen geben dem anderen nicht das Recht, selbst zu Kriegsverbrechen oder gar Völkermord zu schreiten. Das Völkerrecht ist universell und bindend, gerade in den dunkelsten Stunden eines Konflikts. Es ist die Grundlage unserer Zivilisation und schützt die Menschlichkeit. Wenn wir zulassen, dass die Spirale der Gewalt und Vergeltung die Prinzipien des internationalen Rechts auslöscht, verlieren wir alle. Die Weltgemeinschaft, und insbesondere Deutschland mit seiner besonderen Verantwortung, muss sich dieser Wahrheit stellen und die Einhaltung dieser grundlegenden Normen von allen Parteien uneingeschränkt einfordern.