Die Dystopie des Jahres 2025: Ist der Totalitarismus nur eine Frage der Perspektive?

Einleitung: Die schwelende Dystopie von 2025
Am 25. September 2025 trat eine Direktive in Kraft, deren symbolische Wucht kaum zu überschätzen ist: die NSPM-7-Direktive (National Security Presidential Memorandum). Unabhängig von ihrer tatsächlicher Gültigkeit dient diese fiktive Maßnahme als beunruhigender Spiegel für die politischen Prioritäten der Moderne. Sie beleuchtet eine zentrale Frage, die den Kern jeder freiheitlichen Gesellschaft berührt: Wie weit darf der Staat gehen, um sich vor internen Bedrohungen zu schützen? Und ebenso wichtig: Wer bestimmt, was eine interne Bedrohung darstellt?
Das Hauptschlagwort, das diese Analyse leitet, ist Totalitarismus. Es beschreibt ein politisches System, in dem der Staat umfassende Kontrolle über alle Lebensbereiche ausübt. Doch im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Big Data, der allgegenwärtigen Vernetzung und der Informationskriegsführung, manifestiert sich der Geist des Totalitarismus nicht mehr ausschließlich durch Stiefel, die auf Gesichter treten, sondern subtiler – durch Algorithmen, Prävention und die Erosion der epistemischen Sicherheit. Um diese Verschiebung zu verstehen, ziehen wir eine der eindringlichsten Warnungen der Literatur heran: George Orwells Roman 1984.
Dieser erweiterte Artikel analysiert die bemerkenswerten Orwell 1984 Parallelen zwischen der fiktiven NSPM-7-Direktive und der düsteren Vision Ozeaniens. Wir beleuchten, wie die Priorisierung der Kontrolle interner politischer Abweichungen, die Instrumentalisierung von Information, Angst und Gewalt die Grundpfeiler des Demokratie-Sterben markieren können. Wir untersuchen die Transformation des totalitären Prinzips von der offenen Diktatur zur technokratisch vermittelten Prävention und fragen: Wenn die Methoden der Kontrolle von staatlicher Gewalt zu organisierter digitaler Gewalt (Doxing, Swatting) verschwimmen, ist Totalitarismus dann nicht mehr nur eine Frage der Perspektive desjenigen, der gerade die Deutungshoheit über die Realität besitzt?
Kapitel 1: Die Architektur der Internen Bedrohung
Sowohl in Orwells fiktiver Welt als auch in der Logik der NSPM-7-Direktive steht die Beseitigung oder Kontrolle interner politischer Gegner im Zentrum der staatlichen Bemühungen. Die Abweichung wird nicht als pluralistische Meinung, sondern als existenzielle Bedrohung für das gesamte System definiert. Die Natur dieser Bedrohung hat sich jedoch im Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert grundlegend gewandelt.
1.1. Gedankenverbrechen vs. Präventive Verhaltensanalyse: Die Logik der Auslöschung des Dissenses
In 1984 ist die ultimative Gefahr für die allmächtige Partei das sogenannte Gedankenverbrechen (Thoughtcrime). Es ist der unorthopodoxe Gedanke selbst, der bereits im Keim erstickt werden muss, bevor er zur Tat führen kann. Die Gedankenpolizei agiert präventiv, basierend auf Überwachung, Mimik und winzigen Anzeichen mentaler Insubordination.
George Orwell fasst diese allgegenwärtige Bedrohung in denkwürdigen Worten zusammen:
„Das Gedankenverbrechen war keine Sache, die für immer verborgen bleiben konnte. Man konnte jahrelang erfolgreich lügen, aber früher oder später würde der verhängnisvolle Blick einen aufspüren.“
Dieses Zitat unterstreicht die totalitäre Logik: Sicherheit entsteht nicht durch die Bestrafung von Taten, sondern durch die Auslöschung der Möglichkeit abweichenden Denkens. Das Ziel ist die perfekte Konformität, die sich bis in das Unterbewusstsein erstreckt.
Historische Parallele: Die SS als ideologisches Kontrollorgan
Die Funktion und der Schrecken der Gedankenpolizei finden eine dunkle historische Entsprechung in den Sicherheits- und Überwachungsorganen totalitärer Staaten der realen Geschichte, insbesondere der Schutzstaffel (SS) des NS-Regimes. Die SS, insbesondere durch ihre Geheimpolizei Gestapo und den Sicherheitsdienst SD, agierte nicht primär als militärische Einheit, sondern als ideologisches Kontrollorgan. Ihre Mission war die Sicherstellung der politischen Reinheit des Reiches. Ähnlich wie die Gedankenpolizei war die Gestapo darauf ausgerichtet, potenzielle Staatsfeinde zu identifizieren und zu eliminieren – präventiv, bevor eine offene Tat begangen wurde. Der Terror, der durch Spitzel, Denunziation und die Allmacht der Gestapo verbreitet wurde, schuf in der Bevölkerung eine Atmosphäre der Selbstzensur und des chronischen psychologischen Stresses, die dem Gedankenverbrechen in 1984 erschreckend nahekommt. Beide Organisationen waren das ultimative Werkzeug des Regimes, um die innere Opposition, die Opposition des Geistes, bereits im Keim zu ersticken.
Die Moderne Transformation: Vom Gedanken zur Verhaltensspur
Die NSPM-7-Direktive wählt einen moderneren, technokratischen Ansatz, indem sie sich auf die Bekämpfung von „Domestic Terrorism and Organized Political Violence“ (häuslicher Terrorismus und organisierte politische Gewalt) konzentriert.
Der erschreckendste Verweis auf die Orwell’schen Parallelen findet sich in der Anweisung an den Generalstaatsanwalt, spezifische Anleitungen zu erlassen, die „behaviors, fact patterns, recurrent motivations, or other indicia common to organizations“ (Verhaltensweisen, Sachverhalte, wiederkehrende Motivationen oder andere Anzeichen, die für die Organisationen gemeinsam sind) identifizieren sollen.
Hier liegt die Brücke:
- 1984/SS-Logik: Der Staat sucht nach dem Gedanken oder der Gesinnung, die zum Verbrechen führen könnte.
- 2025 (NSPM-7): Der Staat sucht nach Verhaltensmustern und Anzeichen (Indicia) im digitalen Raum, die zur Gewalt führen könnten.
Dies ist die digitale Inkarnation der präventiven Logik. Anstatt darauf zu warten, dass ein Verbrechen begangen wird, wird die strafrechtliche Verfolgung potenzieller Akteure auf Basis vorhersehbarer Verhaltensmuster initiiert. Im Zeitalter der allgegenwärtigen digitalen Überwachung werden Big Data und Algorithmen zur neuen Gedankenpolizei. Sie scannen nicht unsere Gesichter nach Anzeichen von Ungehorsam (wie der Televisor oder die Gestapo-Spitzel), sondern unsere digitalen Spuren – unsere Suchanfragen, Posts, Vernetzungsmuster und Kaufgewohnheiten. Das Denken wird nicht direkt überwacht, aber die Spuren des Denkens sind vollständig exponiert.
1.2. Die Politisierung der Kriminalität: Abweichung als existenzielle Gefahr
Die Anweisung an den Generalstaatsanwalt und den Minister für Innere Sicherheit, häuslichen Terrorismus zu einem „national priority area“ (nationalen Schwerpunktbereich) zu erklären und enorme Ressourcen bereitzustellen, hebt die interne Bedrohung auf die höchste Ebene staatlicher Sorge. Dies spiegelt die Priorität der Partei wider, die Kontrolle über ihre eigene Bevölkerung zu wahren.
Die NSPM-7-Direktive Analyse zeigt, dass die staatliche Maschinerie hochgefahren wird, um politische Gegensätze nicht nur zu verwalten, sondern zu eliminieren. Die thematische Überschneidung liegt in der Priorisierung: Die Beseitigung des internen politischen Dissenses oder der politisch motivierten Gewalt wird zur zentralen, höchst finanzierten Aufgabe des Staates.
In einer gesunden Demokratie wird politischer Dissens als vitaler Bestandteil des Systems betrachtet. In einem autoritären oder totalitären System wird er als Virus oder Krebsgeschwür behandelt. Die NSPM-7-Logik impliziert, dass bestimmte politische Abweichungen, die nicht in das Spektrum des akzeptablen Diskurses passen, als existenzielle Bedrohung eingestuft werden, die ebenso bekämpft werden muss wie eine äußere Armee. Durch die Klassifizierung als „Terrorismus“ wird der politische Gegner entpolitisiert und kriminalisiert, was eine härtere, präventive und letztlich totalitäre Reaktion rechtfertigt.
Kapitel 2: Orwells Schatten: 1984 als Blaupause für die Moderne
George Orwells 1984 ist keine Anleitung für die Zukunft, sondern ein Werkzeug, um die Gegenwart zu analysieren. Die fundamentalen totalitären Mechanismen, die er beschrieb, sind auf die digitale und gesellschaftspolitische Struktur des 21. Jahrhunderts übertragbar.
2.1. Der ‚Televisor‘ in der Hosentasche: Die Allgegenwart der digitalen Beobachtung
In Ozeanien ist der Televisor das Symbol der absoluten Kontrolle: ein Gerät, das gleichzeitig Propaganda sendet und jeden Einzelnen im Blick hat. Er kann nicht ausgeschaltet werden.
Heute tragen wir den modernen Televisor freiwillig mit uns herum – das Smartphone. Es ist ein Gerät, das:
- Ständige Überwachung ermöglicht: GPS-Tracking, Mikrofonzugriff, Kamera, biometrische Daten.
- Propaganda und Desinformation verbreitet: Durch kuratierte soziale Medien-Feeds und algorithmische Filterblasen.
- Verhaltensmuster erfasst: Jede Interaktion, jede Kaufentscheidung, jede politische Äußerung wird aufgezeichnet, analysiert und zur Erstellung eines Profils verwendet.
Die Kontrolle ist nicht weniger total, aber sie ist dezentralisiert und privatisiert worden. Große Technologieunternehmen fungieren als de-facto-Gedankenpolizei, indem sie Regeln für akzeptables „Gedanken-“ oder „Sprachverbrechen“ (Hassrede, Desinformation) festlegen und Verstöße durch Algorithmen ahnden. Die NSPM-7 zielt darauf ab, diese privat gesammelten Verhaltensdaten für staatliche Präventionszwecke zu nutzen, wodurch eine nahtlose Fusion von kommerzieller Überwachung und staatlicher Sicherheit entsteht.
2.2. Die Ökonomie der Angst: Wie chronischer Stress zur politischen Waffe wird
In 1984 wird Angst nicht nur durch Gewalt, sondern durch das ständige Wissen um die potenzielle Überwachung erzeugt. Der Satz „Big Brother is Watching You“ ist ein psychologisches Werkzeug.
Im Kontext der NSPM-7, die „Organized Doxing“ und „Swatting“ als moderne terroristische Akte identifiziert, wird die Angst auf eine neue Ebene gehoben. Diese Taktiken richten sich nicht nur gegen den Staat, sondern werden von nicht-staatlichen Akteuren gegen politische Opponenten eingesetzt:
- Doxing: Die Angst vor der organisierten Veröffentlichung privater Informationen (Adresse, Arbeitsplatz, Familie) führt zu Selbstzensur. Bürger ziehen es vor, zu schweigen, um sich nicht zum Ziel von Belästigung, Jobverlust oder physischen Übergriffen zu machen.
- Swatting: Die Falschmeldung von Notfällen ist der ultimative Schock-Totalitarismus – der Staat wird gegen den Bürger in Stellung gebracht.
Die Parallele zu Orwell ist evident: Der psychologische Mechanismus der Angst und der Einschüchterung wird zur Aufrechterhaltung der politischen Ordnung genutzt. Ob diese Angst nun vom Staat direkt (durch die Gedankenpolizei oder Gestapo) oder durch organisierte Gruppen (die als de-facto-Vollstrecker der Konformität agieren) ausgeht, das Ergebnis ist dasselbe: Die freie Meinungsäußerung stirbt aus Angst vor den Konsequenzen.
Kapitel 3: Mechanismen der Zwangsanwendung und Entmenschlichung
Ob durch staatlich gelenkte Folter oder durch digital organisierte Politische Gewalt – die politischen Ziele werden durch die Anwendung von Angst, Zwang und Manipulation verfolgt. Die Mechanismen ändern sich, die psychologische Wirkung bleibt dieselbe.
3.1. Physische und Digitale Gewalt: Der Stiefel des Totalitarismus im Netzwerk
In 1984 ist Gewalt ein Mittel zur Formung des Geistes, nicht nur zur Bestrafung. Hass wird als emotionaler Treibstoff kanalisiert, sichtbar in der „Zwei-Minuten-Hass-Sendung“, die Wut gegen äußere (Goldstein, feindliche Armeen) und letztlich innere Feinde richtet.
Orwells Vision zur Natur der Macht ist erschreckend brutal und unmissverständlich:
„Wenn Sie ein Bild der Zukunft wollen, stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein menschliches Gesicht tritt – für immer.“
Die Digitale Entmenschlichung der Opponenten
Die NSPM-7-Direktive beschreibt, wie Opponenten versuchen, spezifische politische Ziele durch „radicalization and violent intimidation“ (Radikalisierung und gewalttätige Einschüchterung) zu erreichen. Die Kampagnen beginnen oft damit, Zielpersonen zu isolieren und sie durch Entmenschlichung („dehumanizing“) gefügig zu machen.
Die NSPM-7 identifiziert moderne terroristische Akte, die alle auf der Eskalation von der Entmenschlichung zur Gewalt beruhen:
- Rioting und Looting: Gewaltsame Unruhen und Plünderungen.
- Assault und Destruction of Property: Körperverletzung und Sachbeschädigung.
- Organized Doxing und Swatting.
Die Parallele ist kritisch: Die Entmenschlichung als notwendiger erster Schritt zur Rechtfertigung politisch motivierter Gewalt. In 1984 entmenschlicht die Partei ihre Feinde (Goldstein, die Proleten); in der modernen Dystopie wird diese Taktik von den ideologisch verhärteten Rändern des politischen Spektrums übernommen. Die Gewalt ist nicht mehr das Monopol des Staates, sondern wird als dezentrale, politisierte Gewalt durch Dritte orchestriert. Der Staat ist nun gezwungen, diese neuen totalitären Taktiken zu bekämpfen, was wiederum die Rechtfertigung für die Ausweitung seiner eigenen Überwachungsbefugnisse (NSPM-7) liefert – ein perfekter, sich selbst verstärkender Kreis der totalitären Logik.
3.2. Die Erosion der Bürgerlichen Mitte: Das Ende der Neutralität
Ein totalitäres System benötigt keine neutrale Zone; es verlangt nach einer Entweder-Oder-Logik. Die NSPM-7 und die modernen Informationskriege spiegeln dies wider, indem sie die bürgerliche Mitte erodieren lassen.
Durch die extreme Fokussierung auf interne Bedrohung wird jede Form von politischer Kritik oder Abweichung, die nicht klar auf der Seite des Establishments steht, in die Nähe des „häuslichen Terrorismus“ gerückt. Die granulare Klassifizierung von Verhaltensmustern kann unbeabsichtigt zu einer Über-Klassifizierung von Dissens führen, wodurch der politische Gegner immer als Terrorist oder Extremist erscheint. Dieses binäre Denken ist der Schlüssel zum Totalitarismus: Es gibt nur die Partei und den Feind. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Kapitel 4: Die Kontrolle der Erkenntnis: Sprache, Realität und Doppeldenk
Die Kontrolle über die Information ist der Schlüssel zur Aufrechterhaltung jedes totalitären oder autoritären Systems. In Ozeanien ist es die staatliche Informationskontrolle und Fälschung; in der Moderne ist es der Kampf um die Deutungshoheit über digitale Kanäle.
4.1. Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft
In 1984 garantiert die Partei ihre absolute Macht, indem sie die Vergangenheit kontinuierlich durch das Ministerium für Wahrheit fälschen lässt. Der zentrale Grundsatz des Totalitarismus lautet:
„Wer die Vergangenheit beherrscht, kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“
Die permanente, staatliche Fälschung der Historie dient dazu, das Gefühl für objektive Wahrheit zu eliminieren.
Der Kampf um die Deutungshoheit heute
In der digitalen Ära ist die Vergangenheit nicht physisch in einer Akte gespeichert, sondern in Milliarden von Servern. Dennoch ist die Fälschung präsent, nur anders organisiert:
- Algorithmen und Selektion: Die Kontrolle der Gegenwart geschieht durch Filterblasen. Was der Einzelne heute sieht und liest, wird algorithmisch bestimmt, was zur Fragmentierung der Realität führt. Es ist nicht mehr nötig, dass ein Ministerium die Vergangenheit umschreibt; es genügt, dass jeder Einzelne eine spezielle Version der Vergangenheit und Gegenwart sieht, die seine aktuelle politische Überzeugung bestätigt.
- „Cancel Culture“ als Löschmechanismus: Die moderne Form der Umschreibung erfolgt durch das Löschen von Personen, Aussagen oder Narrativen aus dem öffentlichen Raum. Auch wenn dies oft nicht staatlich gelenkt ist, ist der Effekt totalitär: Die Möglichkeit abweichender Meinungen oder kritischer Biografien wird systematisch aus der öffentlichen Erinnerung getilgt.
4.2. Neusprech, Doppeldenk und die Digitalisierung der Desinformation
Der ultimative totalitäre Kontrollmechanismus ist die Kontrolle über das Denken selbst, die Orwell durch die Deformation der Sprache beschrieb.
Neusprech und die Verarmung der Debatte
George Orwell beschreibt im Anhang von 1984, wie Neusprech (Newspeak) den Wortschatz reduziert, um unorthodoxe Gedanken buchstäblich unmöglich zu machen. Was nicht gesagt werden kann, kann auch nicht gedacht werden.
„Aber wenn der Gedanke die Sprache korrumpiert, so kann auch die Sprache den Gedanken korrumpieren.“
Heute sehen wir die Korrumpierung der Sprache in:
- Hashtag-Politik: Komplexe politische Sachverhalte werden auf emotionale, binäre Slogans reduziert, was die Möglichkeit einer nuancierten Debatte eliminiert.
- Gefühl vs. Fakt: Die Konzentration auf emotionale Empörung anstelle von logischer Argumentation, was die argumentative Grundlage des politischen Denkens schwächt.
Doppeldenk im Informationskrieg
Hinzu kommt das Doppeldenk (Doublethink) – die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Überzeugungen gleichzeitig zu akzeptieren. Dies schafft eine Bevölkerung, die nicht nur die Parteilinie akzeptiert, sondern aktiv daran mitwirkt, die Realität zu fälschen.
Die Partei hat Ihnen gesagt, Sie sollen die Beweise Ihrer Augen und Ohren zurückweisen. Das war ihr letzter und wichtigster Befehl.
Die NSPM-7 merkt an, dass Opponenten ihre Kampagnen über diverse Foren, einschließlich sozialer Medien und Bildungseinrichtungen, verbreiten. Hier manifestiert sich das Doppeldenk auf massenhafter Ebene:
- Die Etablierung widersprüchlicher Wahrheiten: Der Kampf um die Realität (z. B. „Fake News“ vs. „Wahrheit“) zwingt Bürger dazu, sich aktiv für eine vorgefertigte Realität zu entscheiden, selbst wenn diese im Widerspruch zu empirischen Fakten steht.
- Die Moderne Herausforderung: Die Dystopie heute wird nicht nur von einem allmächtigen Staat, sondern auch von organisierten, nicht-staatlichen Akteuren befeuert, die die Orwell’schen Taktiken (Angst, Fälschung, Entmenschlichung) nutzen. Das Doppeldenk wird zur Überlebensstrategie in einer hyperpolarisierten Gesellschaft.
Kapitel 5: Die Erosion der Freiheitsrechte: Juristische und ethische Dilemmata
Die NSPM-7, mit ihrem Fokus auf Prävention und Verhaltensmuster-Analyse, stellt den modernen Rechtsstaat vor fundamentale Herausforderungen und bedroht zentrale Bürgerrechte.
5.1. Der Rechtsstaat unter Präventivschlag: Wenn Absicht zur Straftat wird
Der traditionelle Rechtsstaat basiert auf der Schuldhaftung – eine Straftat ist erst nach der Begehung einer Tat gegeben. Die präventive Logik des Totalitarismus, wie sie im Gedankenverbrechen und der Verhaltensmuster-Analyse der NSPM-7 zum Ausdruck kommt, stellt dieses Prinzip auf den Kopf: Die potentielle Absicht wird zum Verbrechen erhoben.
- Der Fokus auf „Indicia“: Die Identifizierung von „behaviors, fact patterns, recurrent motivations, or other indicia“ verschiebt die Strafverfolgung von der Beweisführung einer Tat zur Interpretation eines potenziell gefährlichen Verhaltensprofils. Dies führt unweigerlich zur Verletzung des Prinzips der Unschuldsvermutung und der Gedankenfreiheit.
5.2. Ethische Implikationen der Mustererkennung und Big Data als Gedankenpolizei
Die Implementierung der NSPM-7 erfordert den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) und Algorithmen, um die riesigen Datenmengen zu durchforsten und verdächtige Muster zu erkennen.
- Bias und Diskriminierung: Algorithmen sind nicht neutral. Sie spiegeln die Bias der Daten wider, mit denen sie trainiert wurden. Wenn die Daten über „häuslichen Terrorismus“ historisch auf bestimmte ethnische, politische oder soziale Gruppen fokussiert waren, wird der Algorithmus diese Gruppen unverhältnismäßig ins Visier nehmen. Die moderne Gedankenpolizei ist blind für Gerechtigkeit, aber hochsensibel für statistische Diskriminierung.
- Die Blackbox-Problematik: Die komplexen Algorithmen zur Mustererkennung agieren oft als „Blackbox“. Wenn ein Bürger aufgrund eines Algorithmus als potenzielle Bedrohung eingestuft wird, kann er die Grundlage dieser Einstufung oft nicht nachvollziehen oder anfechten. Der Totalitarismus benötigt keine Transparenz, und die KI liefert ihm die perfekte, unanfechtbare Fassade.
5.3. Die Gefahr der Über-Klassifizierung: Der Staat als Kontrolleur der Gesinnung
Das größte Risiko liegt in der slippery slope (schiefen Ebene). Was heute als „organisierte politische Gewalt“ definiert wird, könnte morgen auf legitimen politischen Protest ausgeweitet werden. Die totalitäre Versuchung besteht darin, die Definition des Feindes so weit zu fassen, dass sie jeden potenziellen Herausforderer der aktuellen Machtelite einschließt.
- Die Normalisierung der Kontrolle: Das Demokratie-Sterben beginnt nicht mit einem einzigen, dramatischen Ereignis, sondern mit der schleichenden Normalisierung der Kontrolle über Information, Denken und Verhalten. Die Gefahr des Totalitarismus lauert in der Akzeptanz der Logik des präventiven politischen Schlags als „notwendiges Übel“ zur Aufrechterhaltung der Ordnung.
Schlussbetrachtung: Ist der Totalitarismus wirklich nur eine Frage der Perspektive?
Die NSPM-7-Direktive Analyse in Verbindung mit George Orwells 1984 ist eine dringende Warnung: Der politische Kampf um Kontrolle wird heute auf einer neuen Ebene geführt, die die Grenzen zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Gewalt, zwischen physischer und digitaler Einschüchterung verwischt.
Während Orwell sich auf die Gefahren eines allmächtigen, totalitären Staates konzentrierte, der die Realität aktiv fälscht und Gedanken unterdrückt, befasst sich die NSPM-7 primär mit digital und physisch organisierter politischer Gewalt durch nicht-staatliche Akteure.
Die beunruhigende Parallele liegt in der gemeinsamen Prioritätensetzung, die in beiden Dystopien das Herzstück der Machtstruktur bildet: Die Bekämpfung und Kontrolle des internen politischen Dissenses oder der politisch motivierten Gewalt wird zu einer zentralen und höchst finanzierten Aufgabe des Staates erklärt. Dies geschieht durch technisch gestützte Überwachung und Dissens-Erkennung.
Der Totalitarismus ist nicht nur eine Frage der Perspektive; er ist ein System, das darauf ausgelegt ist, die objektive Realität und die pluralistische Perspektive zu eliminieren. In Ozeanien wird dieser Zustand durch physische und psychologische Gewalt erzwungen. In der Ära der NSPM-7 droht er durch die technokratische Prävention und die algorithmische Vorhersage unerwünschten Verhaltens Realität zu werden.
Die heutige Relevanz von 1984 liegt darin, dass viele seiner dystopischen Elemente – von manipulierten Wahrheiten bis hin zu normalisierter Überwachung – zu Merkmalen der globalen Realität geworden sind. Unsere Wachsamkeit muss sich daher nicht nur auf den Staat konzentrieren, sondern auch auf die von ihm legitimierten oder tolerierten digitalen Gewalt- und Kontrollmechanismen, die die Bürgerrechte im Namen der Sicherheit untergraben.
Das Schicksal der Freiheit hängt davon ab, ob wir bereit sind, die Logik des präventiven politischen Schlags als das zu erkennen, was sie ist: der erste Schritt in Richtung einer Dystopie, in der der Gedanke selbst zur Waffe wird.