600 GB geleakt: Das größte Datenleck der Great Firewall of China

Die Great Firewall of China (GFW) ist das Synonym für eine der komplexesten und weitreichendsten Internetzensur-Maschinerien der Welt. Sie regelt, was über 1,4 Milliarden Menschen im Internet sehen, lesen und teilen dürfen. Seit ihrer Einführung in den späten 1990er Jahren war die genaue Funktionsweise dieser Technologie ein gut gehütetes Geheimnis. Doch am Donnerstag, dem 11. September 2025, schien dieser eiserne Vorhang einen beispiellosen Riss zu erleiden: Eine Hacktivisten-Gruppe veröffentlichte mutmaßlich 600 GB an internen Daten, die tiefe Einblicke in das Herzstück des Systems geben.

Dieses Datenleck ist kein gewöhnlicher Vorfall. Es handelt sich nicht um ein paar wenige E-Mails oder eine knappe Notiz eines Whistleblowers. Die geleakten Dateien enthalten angeblich Quellcode, interne Kommunikation, Arbeitsaufzeichnungen und technische Dokumentationen. Sie bieten ein seltenes und detailliertes Fenster in die Infrastruktur, die Entwicklung und die globale Verbreitung der chinesischen Zensur- und Überwachungstechnologie. In diesem ausführlichen Bericht analysieren wir die Umstände des Leaks, wer dahintersteckt, was die Daten offenbaren und welche weitreichenden Konsequenzen dies für die Welt hat.

Der beispiellose Einblick: Was genau ist geleakt worden?

Das Datenpaket, das von der Hacktivisten-Gruppe „Enlace Hacktivista“ veröffentlicht wurde, hat einen gigantischen Umfang von fast 600 GB. Es ist nicht nur die schiere Größe, die dieses Datenleck so bedeutsam macht, sondern auch die Art der enthaltenen Informationen. Es handelt sich um rohe, operative Daten, die über Jahre hinweg gesammelt wurden und die die Entwicklung und Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Organisationen nachzeichnen.

Die Veröffentlichung erfolgt über BitTorrent und direkte Links, was die breite Zugänglichkeit sicherstellt. Das Herzstück des Datenpakets ist ein 500 GB großes Archiv namens mirror/repo.tar, das angeblich den Spiegel eines RPM (Red Hat Package Manager) Packaging Servers darstellt. Dies allein ist schon eine Sensation, denn es zeigt, dass die GFW wie jedes große, professionelle Software-System verwaltet wird, mit Code-Repositories und Packaging-Servern, die zehntausende von Dateien enthalten. Dies widerspricht der oft vereinfachten Darstellung der GFW als ein monolithisches, politisches Konstrukt und zeigt, dass sie ein technisches Meisterwerk ist.

Neben dem Code-Archiv enthalten die Daten komprimierte Sätze von Dokumenten, darunter geedge_docs.tar.zst und mesalab_docs.tar.zst. Diese Dokumente beinhalten Tausende von internen Berichten, technischen Vorschlägen und Projektbeschreibungen. Es ist, als würde man die Baupläne und die interne Kommunikation des gesamten Zensurapparats in die Hände bekommen. Für Sicherheitsforscher und Menschenrechtsorganisationen bietet dies eine einmalige Gelegenheit, die Funktionsweise der GFW von innen heraus zu verstehen.

Wer steckt hinter der Großen Firewall? Die Hauptakteure des Leaks

Der Leak hat die Namen von zwei Schlüsselorganisationen an die Öffentlichkeit gebracht, die seit Langem im Zentrum der Forschung und Entwicklung der GFW stehen. Die Daten werden angeblich der chinesischen Firma Geedge Networks und dem MESA Lab am Institut für Information Engineering der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (IIE, CAS) zugeordnet.

Geedge Networks und das MESA Lab

Das MESA Lab (Massive Effective Stream Analysis) wurde im Januar 2012 am IIE in Peking gegründet. Im Laufe der Jahre wuchs das Labor schnell durch staatliche Stipendien, Forschungsprojekte und die Rekrutierung von Talenten. Bis 2016 verwaltete das Team Berichten zufolge Projekte im Wert von über 35 Millionen Yuan pro Jahr und erhielt nationale Auszeichnungen im Bereich der Cyber-Sicherheit.

Geedge Networks wurde 2018 in Hainan gegründet und fungierte als wichtiger privater Partner für chinesische Behörden. Die Verbindung zwischen MESA und Geedge ist besonders eng. Viele der „Kern-Forschungs- und Entwicklungspersonal“ von Geedge stammen von MESA. Die Daten des Leaks sollen Git-Commits und Projektmanagement-Aufzeichnungen enthalten, die die nahtlose Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen belegen. Dies zeigt, wie staatliche Forschungsinstitute und private Unternehmen Hand in Hand arbeiten, um die Zensur- und Überwachungstechnologie zu entwickeln und zu warten.

Fang Binxing: Der „Vater der Großen Firewall“

Eine zentrale Figur in dieser Geschichte ist Fang Binxing, der in China oft als der „Vater der Großen Firewall“ bezeichnet wird. Er war maßgeblich an der Etablierung des National Engineering Laboratory for Information Content Security (NELIST) beteiligt, das später zur Keimzelle des MESA Lab wurde. Als Geedge Networks 2018 gegründet wurde, übernahm Fang die Rolle des Chefwissenschaftlers und brachte wichtige Mitarbeiter aus dem MESA-Team mit, darunter Zheng Chao, der als Chief Technology Officer (CTO) fungierte. Fangs Rolle untermauert die enge Verbindung zwischen den akademischen und privatwirtschaftlichen Akteuren, die für die Infrastruktur der GFW verantwortlich sind.

Ein globaler Fußabdruck: Wie Chinas Zensurtechnologie exportiert wird

Die geleakten Dokumente offenbaren eine beunruhigende Wahrheit: Die GFW ist kein rein nationales Projekt mehr. Die Dateien weisen darauf hin, dass die Zensur- und Überwachungstechnologie der beteiligten Unternehmen weit über die Grenzen Chinas hinausreicht. Regierungen in Myanmar, Pakistan, Äthiopien und Kasachstan sollen mit dieser Technologie beliefert worden sein.

Diese internationale Reichweite ist direkt mit der „Belt and Road Initiative“ (BRI) Chinas verbunden. Dateinamen wie BRI.docx und CPEC.docx (China-Pakistan Economic Corridor) deuten darauf hin, dass die Lieferung von Zensurwerkzeugen ein fester Bestandteil der BRI-Projekte ist. Für viele dieser Länder, die politisch instabil sind oder autoritäre Regime haben, ist die Technologie ein mächtiges Werkzeug, um die Meinungsfreiheit zu unterdrücken und die eigene Bevölkerung zu kontrollieren. Dieses Datenleck liefert erstmals handfeste Beweise für die Behauptung, dass China seine digitale Kontrolltechnologie aktiv in die Welt exportiert und damit eine neue Ära der globalen Internetzensur einläutet.

Der Aufbau des Zensurapparats: Was die Dateien offenbaren

Die Struktur und der Inhalt des Leaks erzählen eine eigene Geschichte. Sie zeigen, dass die GFW ein hochorganisierter, fast schon bürokratischer Apparat ist. Die Dateien sind in einer Weise angeordnet, die einen tiefen Einblick in die tägliche Arbeit der Ingenieure und Forscher ermöglicht.

  • Interne Dokumente und technische Pläne: Die Dokumente in geedge_docs.tar.zst und mesalab_docs.tar.zst enthalten Tausende von Berichten und technischen Vorschlägen. Dies sind keine einfachen Notizen, sondern professionelle, gut strukturierte Dokumente, die die Entwicklung von Zensurtechnologien im Detail beschreiben.
  • Projektmanagement und Bürokratie: Aufzeichnungen aus dem Projektmanagement, wie die Dateien in geedge_jira.tar.zst, zeigen die tägliche Koordination zwischen Forschern und Ingenieuren. Administrative Dateien, die sich auf Auslagenerstattungen und die Logistik von Geräten beziehen, zeigen, wie tief und routiniert der bürokratische Apparat ist, der hinter den Zensurmaßnahmen steht. Dies veranschaulicht, dass Zensur in China nicht nur eine politische Ideologie ist, sondern ein etabliertes, alltägliches Geschäft.
  • Die technische Infrastruktur: Das 500 GB große repo.tar-Archiv ist vielleicht der aufschlussreichste Teil. Es ist der Beweis, dass die GFW nicht nur aus einigen wenigen Filtern besteht, sondern aus einer komplexen, technischen Infrastruktur, die durch Code-Repositories und Packaging-Server verwaltet wird. Es zeigt die Skalierbarkeit und Professionalität, mit der das System gepflegt und weiterentwickelt wird.

Was bedeutet das Leak für die Zukunft? Konsequenzen und Ausblick

Das Datenleck ist ein Wendepunkt in der Diskussion über Chinas Internetkontrolle. Es bestätigt, was viele Beobachter und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren vermuten: Die Great Firewall of China ist kein statisches System, sondern ein dynamisches, wachsendes Netzwerk, das von staatlichen Verträgen, Forschungsinstituten und privaten Unternehmen geformt wird.

Für die globale Gemeinschaft bietet dieses Leak eine beispiellose Möglichkeit, die genaue Funktionsweise der Zensurtechnologie zu verstehen. Forscher und Menschenrechtsaktivisten können nun den Quellcode analysieren, um Schwachstellen zu finden und Mechanismen zu entwickeln, die Zensur zu umgehen. Auch wenn die vollständige Analyse des Quellcodes Monate in Anspruch nehmen wird, liefern die Dokumente bereits eine Fülle an Informationen über die Organisation, die Taktiken und die globalen Ambitionen der Zensurmaschinerie.

Dieses Ereignis wirft auch ein Schlaglicht auf die globale Cyber-Sicherheit. Es zeigt, wie wichtig es ist, die digitalen Lieferketten zu überwachen und die Verbindungen zwischen akademischen Institutionen, privaten Unternehmen und staatlichen Akteuren zu verstehen. Die Enthüllungen könnten Regierungen weltweit dazu veranlassen, ihre eigenen Partnerschaften und die potenziellen Risiken des Imports von Überwachungstechnologie zu überdenken.

Dringende Sicherheitswarnung: Was Sie beim Umgang mit den Daten beachten müssen

Die Hacktivisten selbst haben eine dringende Warnung ausgesprochen: Wer die geleakten Dateien herunterlädt und untersucht, sollte dies ausschließlich in einer isolierten und sicheren Umgebung tun. Angesichts der Sensibilität des Inhalts besteht immer das Risiko, dass die Archive mit Malware oder Tracking-Elementen versehen wurden, die darauf abzielen, diejenigen zu identifizieren oder anzugreifen, die die Daten analysieren. Seien Sie extrem vorsichtig und nutzen Sie professionelle Tools und virtuelle Maschinen, um sich zu schützen.

Fazit: Bleiben Sie wachsam

Das Datenleck der Great Firewall of China ist ein monumentales Ereignis. Es liefert nicht nur tiefe Einblicke in die Funktionsweise der chinesischen Internetzensur, sondern belegt auch die beunruhigende Tatsache, dass diese Technologie weltweit exportiert wird. Die geleakten Daten zeigen, dass die GFW kein einzelnes, unüberwindbares Hindernis ist, sondern ein komplexes Netzwerk aus Personen, Organisationen und Technologie.

Die wichtigsten Erkenntnisse sind:

  • Die GFW ist ein hochprofessioneller, technischer Apparat, der durch ein Netzwerk von staatlichen und privaten Unternehmen betrieben wird.
  • Die Zensur-Technologie wird als Teil der Belt and Road Initiative in andere Länder exportiert.
  • Die Überwachungstechnologie ist kein abstraktes Konzept mehr, sondern ein messbares, dokumentiertes Produkt, das über globale Lieferketten verbreitet wird.

Dieses Leak ist ein Weckruf. Es unterstreicht die Notwendigkeit, wachsam zu bleiben und die Entwicklungen im Bereich der Internetzensur genau zu verfolgen. Es ist ein Beweis dafür, dass Transparenz und Wissen die mächtigsten Waffen gegen Zensur und Unterdrückung sind.

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